Jungle World - Die linke Wochenzeitung aus Berlin, Nr. 46/2001 - 07. November 2001


Familienstreit Imperiale

Es ist ein Krieg innerhalb des Imperiums, sagt der italienische Theoretiker ROBERTO BUI. Ein Interview zur Geschichte der Linken, zu den Ereignissen in Genua und zum Krieg gegen Afghanistan


Roberto Bui ist einer von fünf Autoren des Schriftstellerkollektivs „Wu Ming“ aus Bologna. (Italien). Wu Ming (chinesisch:„ohne Namen“) entstand 1999 aus der No-Copyright-Bewegung und setzte das Luther Blissett Projekt (LBP) und mit ihr die Praxis des kollektiven Schreibens fort. Das kollektive Schreiben setzt gegen den Geniekult der individuellen Urheberschaft, die den Autor als originellen Erfinder seiner Geschichte reproduziert, das Schreiben als ursprünglich kollektive Praxis, als Produkt gesellschaftlicher Kooperation. Gegen das intellektuelle Privateigentum zielt das No-Copyright-Konzept auf die ununterbrochene Reproduktion von Texten für alle nicht-kommerziellen Nutzungen. 1999 erschien „Q“, der letzte Roman unter dem Pseudonym Luther Blissett, der in Italien zum Bestseller wurde und mittlerweile in Übersetzung auch in Spanien, Frankreich und Holland erschinenen ist. Die deutsche Übersetzung ist für den Sommer 2002 geplant. Der historische Roman „Q“ behandelt die Revolten des 16. Jahrhunderts gegen Katholizismus und Protestantismus in Deutschland und Nord-Europa, von den Bauernkriegen und Thomas Müntzer bis zum Friedensvertrag von Augsburg. Erstmalig unter dem Namen Wu Ming erschien im letzten Frühling in Italien der historische Roman „Asce di guerra“ (Streitäxte), über die italienische Widerstandsgeschichte und ihre mysteriöse Folge in der indochinesischen Befreiungsguerrilla der 50er Jahre.

Wie ist das Luther Blissett Project entstanden und und in welchem Verhältnis steht es zu Gruppen der italienischen Linken der neunziger Jahre?

In Italien hat es drei parallele Entwicklungslinien gegeben: Die erste ist das Luther Blissett Project, das von ´94 bis ´99 eixstierte. Luther Blissett entstand aus vorherigen Erfahrungen, wie der Besetzung der Literatur-Fakultät in Bologna 1990, aus der einige selbstverwaltete Radiosender und Kollektive hervorgingen. Die zweite Linie betrifft die Entwicklung der Centri Sociali, die mit der „Carta di Milano“, eine Art „Konstitution“ formuliert haben, mit der sich die sozialen Zentren vom Ghetto und Resistenzialismus der 80er- und beginnenden 90er Jahre befreit haben: nun ging es um die Konstitution von freien Zusammenschlüssen; ein Prozeß von Unten, der mehr von Autonomie als von der Übernahme der staatlichen Macht spricht und der die Vorstellung einer konfrontativen Kampfansage, diesen Westernfilm zwischen uns und den Polizisten, zu Ende führt und die Zivilgesellschaft außerhalb dieser imaginierten Konfrontation berücksichtigt. Die Tute Bianche haben sich innerhalb dieses neuen Kontextes entwickelt. Bestimmte Erfahrungen, wie die von LBP, die noch avangardistisch waren, wurden von immer mehr Leuten geteilt, und ich spreche hier vor allem vom Umgang mit den Medien. Nicht mehr nur einfach sagen „die Journalisten lügen“, sondern versuchen, diese Lügen durch ein Angebot von alternativen Mythen zu steuern, durch die Verwendung bestimmter Wörter Sinndeplazierungen zu produzieren, die dann von der Presse übernommen werden. Wie das geht, wurde z.B. vor Genua offensichtlich, als alle Kommentatoren auf einmal von der „Vielfalt“ (moltitudine) sprachen, die als Begriff von Toni Negri aus der „Ethica“ von Spinoza aufgegriffen wurde. Plötzlich konnten alle auf wunderbare Weise verstehen, was Vielfalt bedeutete, ohne jemals Negri oder Spinoza gelesen zu haben.
Obwohl diese zwei ersten Entwicklungslinien beide der „Autonomia“ entstammen, hätten sie nicht miteinander kommunizieren können ohne der Einfluß des Zapatismus. Der Zapatismus hat gezeigt, dass man konkret agieren kann und dass man sich nicht nur damit beschäftigen sollte, seine Radikalität nach außen zu kehren, sondern kommunikativ wirksam zu werden. Die zapatistische Nutzung der Mythen war sehr ähnlich dem, was Luther Blissett sich vorstellte. Man wollte dort Mythen produzieren, die sich nicht als Kristalline verfestigen, verselbständigen und entfremdet werden, sondern von den Gemeinschaften, die sie verwenden, ständig manipulierbar bleiben.

In eurem Buch „Nemici dello Stato. Criminali, „mostri“ e leggi speciali nella societá di controllo“ (Staatsfeinde. Kriminelle, „Monster“ und Sondergesetze in der Kontrollgesellschaft), ´99 geschrieben, habt ihr eine historische Analyse der juridischen Repression in Italien zu der Massenbewegung in den siebziger, zu der Mafia in den achtziger und zu der Korruption der Politik in den neunziger Jahren geschrieben. Wie würde diese Geschichte weitergehen, wenn man die letzten politischen Ereignisse berücksichtigen würde?

Das echte Titel des Buchs war am Anfang „der postmoderne Polizeistaat“, dann haben wir entschieden, es in „Staatsfeinde“ umzusetzen, was mehr appeal hatte. Toni Negri und Michael Hardt, in ihrem „Die Arbeit des Dyonisos“, bestimmen die Merkmahlen des postmoderne Staats und die juridische Theorie, die in der letzten dreizig Jahren gemacht wurde, um ihn zu bilden.
Der postmoderne Staat ist „leicht“, weil er die öffentliche Ausgabe und das welfare kürzt. Seine Rolle beschränkt sich auf die Verwaltung der freien Markt- und kapitalräuberei und auf der Repression eventueller gesellschaftlichen Proteste. In den letzten dreißig Jahren hat der postmoderne Staat eine eigene Rechtstheorie entwickelt, die die Figur der Arbeit aus der Konstitutionen, dem Recht und der Gesetzte ausschließt. Zu dieser Entwicklung gehört aber auch die Produktion bestimmter Mechanismen, die erlauben, den gesellschaftlichen Konflikt präventiv und repressiv zu kontrollieren. Unseres Buch analysiert dieses Prozeß in Italien, die ein Vorbild der Entstehung des postmodernen Staats repräsentiert, weil dort ist die Massenbewegung der siebziger Jahren besonders diffus und radikal gewesen. Als dreckige Arbeit der Staatsrepression kam die „Strategie der Spannung“ und als juristische Reaktion wurden seit 1975 Gesetzte angenommen, die heute noch gelten. Diese beschränken die Möglichkeiten des Widerspruchsausdruck , kriminalisieren politische Praxis durch die Erfindung neuer Verbrechen und personifizieren die Straffälle. Das Buch setzt dieses Prozeß im Kontext der Diktate, die das internationale Kapital zu den verschiedenen nationalen Staaten seit Mitte der siebziger Jahren gegeben hat. Zum Beispiel die Losung der Regierbarkeit und der Stabilität, die 1973 die Trilaterale Kommission auferlegte.
Der unmittelbare Rückfall aufs Heute ist, daß dieses Prozeß eigentlich noch nicht zu Ende ist, weil das Kapital das Problem der Stabilität noch nicht gelöst hat. Die Welt ist immer unstabiler, wie wir in den letzten Tagen sehen können. Je mehr das Kapital sich virtualisiert, das Geld vom Goldgegenwert in ein pure Energiefluß von Elektronen wandelt, die von einem Atom zu ein anderen gehen, wird der Staat rein Instrument einer immer virtuellere und phantasmatische Ökonomie. Als Konsequenz daraus wird die Gesellschaft immer unstabiler: Je globalisiertere Kapital, desto globalisiertere Ausbeutung, desto globalisiertere Abweichung und Resistenz. Das Prozeß, was wir in „Staatsfeinde“ analysiert haben, ist weiter gegangen, und wir werden eine Neubearbeitung dazu schreiben, aber die Entwicklungslinien dort waren schon richtig.

Wie hat Wu Ming auf die Ereignisse von Genua reagiert?

Genua markiert einen Höhe- und Wendepunkt, vielleicht aber auch einen Stillstand. Es handelte sich um eine Katastrophe im physischen Sinn. Der Physiker René Thom, der die Theorie der Katastrophen begründet hat, benutzt den Begriff „Katastrophe“, um eine Topologie zu beschreiben, die von einer plötzlichen Unterbrechung geschaffen wird. Wir befinden uns heute in einem solchen gänzlich veränderten Raum, den wir erst noch durchmessen müssen. Wir haben etwas geschrieben, um verständlich zu machen, dass Genua eine Katastrophe in diesem und nicht im klassischen Sinne gewesen ist, weil es in Genua auch sehr positive Signale gegeben hat: Dass 300.000 Leute am Samstag, den 21. Juli unseren Arsch gerettet haben, war unvorstellbar. In den vorausgegangenen Wochen hatten wir immer gedacht, es würden vielleicht 100.000 Leute kommen und das war die höchste Zahl, die wir uns vorstellen konnten. Noch am Freitagabend hatten der Präsident der italienischen Republik, Ciampi und Regierungschef Berlusconi in Fernsehansprachen dazu aufgerufen nicht nach Genua zu kommen, um die Arbeit der Sicherheitskräfte nicht zu behindern. Viele Leute reagierten äußerst zornig auf diese Infragestellung des Demonstrationsrechts. Nach dem Tod von Carlo Giuliani am Freitag sagte die DS (Demokratische Linke) ihre Teilnahme an den Demonstrationen ab. Zahlreiche Mitglieder der Basis fühlten sich von ihren Parteidirigenten beschissen und kamen als Einzelpersonen nach Genua. Das war die Verwirklichung eines kollektiven Gehirns! Alle diese Leuten wußten, dass, wenn sie nicht nach Genua gekommen wären ein Massenmord stattgefunden hätte. Ich glaube, das war das positivste Signal von Genua. Aber wir haben auch über die Bewertungsfehler gesprochen: Niemand hatte z.B. eine derart brutale Reaktion der Sicherheitskräfte vorausgesehen. Die Tute Bianche mußten erfahren, dass ihre sehr effektive Strategie in diesem neuen Szenario nicht mehr ausreichte, um die Leute wirksam zu schützen. Womit niemand gerechnet hatte, war ein Angriff der Carabinieri noch während des autorisierten Teiles der Demo, der die Pläne der tute bianche komplett erschütterte. Die ewige Rivalität zwischen militärischer und ziviler Polizei (carabinieri und polizia) ist kompliziert und für Außenstehende schwer zu vermitteln. Diese Konkurrenz hat sich jedoch in den letzten Jahren verschärft, weil die Spitzen der Staatspolizei von der vorherigen Mittelinksregierung gewählt wurden während die Carabinieri traditionell rechtsradikal sind.

In welchem Sinn ist der 11. September eine Katastrophe gewesen, eine plötzliche Unterbrechung, die Konfigurationen der Macht neu bestimmt ?

Was derzeit passiert ist keineswegs ganz neu, weil das was wir Empire nennen schon vorher existierte. Wir benutzen nicht mehr den klassischen Begriff der imperialen Macht, weil diese noch an den Nationalstaat gebunden ist. Das Empire ist eine Dynamik, nicht ein Umstand und ist auch keineswegs identisch mit den USA. Die treibende imperiale Ideologie ist der Neoliberlismus mit der Nato und der Seato als militärische Arm. Die reellen Schauspieler sind aber die Konzerne und die juristischen Organe sind die Institutionen, die in Breton Woods entstanden, wie die IWF und die Weltbank. Diese letzte sind nur noch im klassischen Sinn imperial, weil sie sich noch zu den USA bezogen. Die neue juristische Macht ist die WTO, die komplett autonom von Nationalstaaten ist und die als Kommission der Konzerne entstand, um ihre Ausbeutung der Arbeitskraft und der Natur zu schützen. Die USA, als Sitz zahlreicher Organisationen und Konzerne und als weltliche Gendarme, sind sicherlich der Punkt des Imperiums, wo die Macht sich am meisten konzentriert. Zum Imperium gehören aber auch die Elites und leitende Klassen der armen Länder.
Was derzeit passiert ist ein Krieg innerhalb des Imperiums. Wer die Anschläge in den USA geplant hat, wollte sicherlich das symbolische Herz des Imperiums treffen. In einer Art kann man sagen, dass die drei Hauptstädte des Imperiums getroffen wurden, New York als Wirtschafts- und Finanzmetropole, Washington als Schaltstelle der Politik und des Militärs und Los Angeles, Hollywood, als Zentrum der Propaganda und der Mythenfabrikation, die das Imperium braucht, um die Welt zu regieren. Die Anschläge wurden auch mit dem Ziel durchgeführt ein ganzes filmisches Genre, die Katastrophenfilme und action movies zu nekrotisieren, von „True Lies“, „Armageddon“, „Die Hard“, „Godzilla“ bis „The Siege“, vielleicht der prophetischste von allen hinsichtlich der Ereignisse im September.. Ziel war es die Produktion der Konsensmaschinerie und das kollektive Imaginäre in Krise zu setzen, die jetzt tatsächlich in der Krise ist: Es gibt diese Anthrax -Paranoia, die Furcht vor dem bakteriologischen Krieg. Ohne der Anschlag unterstützen zu wollen ist er vom Standpunkt der Spieltheorie und Kriegskunst aus ein Meisterstreich gewesen. Unter den Trümmern des World Trade Centers ist aber nicht das Imperium auf der Strecke geblieben, denn die Initiatoren des Anschlages sind selbst Teil des Imperiums. Zu der materiellen Konstitution des Imperiums gehören auch alle illegalen kapitalistischen Strukturen, also das organisierte Verbrechen, die finanzielle Mafia, heimliche Transaktionen usw. Al Qaida funktioniert vollkommen wie eine Mafia, eine kapitalistische Organisation mit einem Fuß in der Legalität und dem anderen außerhalb davon. Al Qaida ist ein echter Konzern und gehört dem Imperium. Zahlreiche Fonds bin Ladens wurden z.B. von der Deutsche Bank geleitet.

Kann man sagen, dass als Reaktion auf globale Bedrohungen eine Identifizierung und Personifizierung des „Feindes“ stattfindet?

Ja. Aber das ist eigentlich mehr ein Erfolg von bin Laden als eine Strategie der Amerikaner. In den letzten Tagen gab es antiamerikanische Demonstrationen in vielen Ländern des Südens. Alle Augen richten sich nun auf die größte militärische Macht der Welt, die eines der ärmsten Länder der Welt bombardiert. Es ist ein unglaublicher Zynismus: während der Bombardierung werden Lebensmittel auf Minenfelder abgeworfen. Wer sie sich abholt, wird in die Luft gesprengt. All das ist sichtbar und geschieht im Sonnenlicht. Aber die öffentliche Meinung im „Westen“, vor allem die amerikanische, ist von der Propaganda ganz narkotisiert. In den Länder, in denen es eine Gegenpropaganda gibt, werden solche Ereignisse hingegen sehr stark betont und das zum Vorteil von bin Laden. Dieser hat sich nun einen Ruf verdient als Robin Hood der islamischen Welt, Verteidiger der Schwachen, der guten Opfern des heiligen Kriegs und das obwohl er ein Stück Scheiße ist, Kapitalist, Multimillionär mit grauenhaften politischen Plänen. Dieser Erfolg stützt sich auch auf die Tatsache, dass von einem symbolischen Standpunkt „sie“ das Spiel des Zivilisationsstreits gewinnen werden, weil sie eine stärkere Idee ihrer Zivilisation haben. In den USA und in Europa hingegen müssen diese Identifikationen ständig durch Anabolika und Steroide gereizt werden. Eigentlich kann das Imperium nur verlieren, aber es zieht uns mit, indem es uns in dieses Spiel involviert. Wenn wir dieses System nicht kurzschliessen, werden wir in den Antinomien Ost/West, Fanatismus/Zivilisation, Terrorismus/Demokratie gefangen bleiben, die schwachsinnige Vereinfachungen dessen darstellen was gerade wirklich passiert.

Auf welche Inhalte sollte man sich konzentrieren, um aus dieser Logik rauszukommen?

Man sollte den billigen und unsinnigen Antiamerikanismus hinter sich lassen, der mit „Yankee go home“ und dem Verbrennen amerikanischer Flaggen zuweilen bei Demonstrationen auftaucht. Als ob das Problem noch das des amerikanischen Imperialismus wäre, als ob Europa nicht eine halbautonome Provinz des Imperiums wäre, als ob bin Laden nicht selbst zum Imperium gehöre. Die Formen des Handelns und der Mobilisierung sollten sich auf diese einfache Wahrheit konzentrieren: Der momentane Streit existiert ausschließlich innerhalb des Imperiums. Statt Friedensdemos zu veranstalten, die sich doch nur zum Selbstzweck haben, wäre es als Konsequenz nicht schlecht, die Bank anzugehen, die das Geld bin Ladens verwaltet.
Es wäre nicht schlecht, brechende Initiativen gegen die Banken zu machen, die jedes Jahr tausende Transaktionen im Rahmen der Finanzierung dieser von der Propaganda als „Feinde“ dargestellten Realitäten machen. Man sollte mehr über die Ökonomie überlegen, weil sie die Wahrheit unserer Gesellschaft ist. Man sollte ein Bisschen mehr die wirtschaftliche Abteilungen der Zeitungen und ein Bisschen weniger Schwachsinn der ersten fünfzehn Seiten lesen, und daher Aktionsformen, Zielen, Diskurse ausarbeiten. Zum Beispiel, ein Bewertungsfehler der Repression in Genua ist es gewesen, der Fall der argentinischen Ökonomie nicht zu berücksichtigen. Argentinien ist der Vorbild des IWF gewesen, wo das IFW die radikalste ökonomische Sanierungspolitiken sperimentiert hat, und deswegen konnte der Fall Argentinien voraussehen lassen, dass das Imperium vorbereitet war, die Rezession mit eisernen Fäuste zu führen. Wenn man die Ökonomie nicht folgt, ist es nicht sofort klar welche die Beziehungen zwischen der beiden Sachen ist, aber die ist direkt. Auch im Bezug auf dem Streit gegen diesem Krieg sollte man die Ökonomie mehr folgen.


Interview und Übersetzung: Stefania Maffeis

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