Stefania Maffeis
Interview mit Roberto Bui (Wu Ming 1) - Oktober 2001


Roberto Bui ist einer von fünf Autoren des Schriftstellerkollektivs »Wu Ming« aus Bologna. Wu Ming (chinesisch: »Ohne Namen«) entstand 1999 aus der No-Copyright-Bewegung und setzte das Luther Blissett Projekt (LBP) und mit ihr die Praxis des kollektiven Schreibens fort. Das kollektive Schreiben stellt gegen den Geniekult der individuellen Urheberschaft, die den Autor als originellen Erfinder seiner Geschichte reproduziert, das Schreiben als ursprünglich kollektive Praxis, als Produkt gesellschaftlicher Kooperation. Gegen das intellektuelle Privateigentum zielt das No-Copyright-Konzept auf die ununterbrochene Reproduktion von Texten für alle nicht-kommerziellen Nutzungen.
Unter dem Pseudonym Luther Blissett erschienen 1999 »Nemici dello Stato« (Staatsfeinde) und »Q«. Nemici dello Stato analysiert die rechtlichen Repressionen gegenüber den italienischen Massenbewegungen der siebziger Jahre, das zwiespältige Verhältnis von Staat und Mafia in den achtziger und die Korruption der Politik in den neunziger Jahren. Q, ein historischer Roman, behandelt die Revolten des 16. Jahrhunderts gegen Katholizismus und Protestantismus in Deutschland und Nord-Europa, von den Bauernkriegen und Thomas Münzer bis zum Friedensvertrag von Augsburg. Er erzählt die Geschichte einer Konfrontation zwischen dem Chronisten der Ereignisse, der, Europa durchwandernd, unter wechselnden Identitäten an den Umbrüchen und Revolten seiner Zeit teilnimmt und dem im Dienste der Inquisition stehenden Spitzel Q, der gegen die Erhebungen arbeitet und sie zum Scheitern bringt.


In welchem Zusammenhang stehen das Luther Blissett Project und die Tute Bianche?

Die Tute Bianche wurden in ihrer politischen Praxis und in ihren Experimenten mit den Medien und Mythen in den fünf Jahren vor der Explosion der Bewegung stark beeinflusst. In Italien hat es hierzu drei parallele Entwicklungslinien gegeben: Die erste ist das Luther Blissett Project, das von 1994 bis 1999 existierte. Luther Blissett ging aus bestimmten Erfahrungen, wie der Besetzung der Literatur-Fakultät von Bologna 1990 hervor, aus der sich auch das Kollektiv »Ala dura e creativa« (harter und kreativer Flügel) gebildet hatte.
Die zweite Linie betrifft die Entwicklung der Centri Sociali, die in der »Carta di Milano« eine Art Konstitution formuliert haben, mit der sich die sozialen Zentren vom Ghetto und einer bloßen Verweigerungshaltung der achtziger und der beginnenden neunziger Jahre lösen konnten. Damals wurden Thematiken eingebracht, die vom Zapatismus inspiriert waren: Beispielsweise die Bildung von freien Zusammenschlüssen, als ein Prozess von unten, der mehr von Autonomie als von der Übernahme der staatlichen Macht spricht und der mit der Vorstellung einer konfrontativen Kampfansage, diesem Westernfilm zwischen uns und den Polizisten, abschließt, und die Zivilgesellschaft außerhalb dieser imaginierten Konfrontation berücksichtigt.
An Stelle eines mit Vorurteilen beladenen, antiinstitutionellen Diskurses, diesem »Wir sprechen nicht mit dem bürgerlichen Staat«, entwickelte sich eine weitaus subtilere Infiltrierung lokaler Institutionen, eine Art Dialog, der sich keineswegs unterordnete, mit dem aber eine neue Qualität antagonistischer Praxis erreicht wurde. Dieser Prozess ist von vielen Seiten kritisiert worden, aber er hat ein politisches Feld, das mindestens 50.000 Leute umfasst, aus der Indianer-Reserve gelockt und aus einer Kultur befreit, die zum Verlieren verurteilt war. Denn diese Strömung war nur noch auf Verweigerung aus, ganz »Feuer und Flamme« und dazu hochgradig autistisch. Dieses »mit dem spreche ich nicht und mit dem anderen schon gar nicht«, hatte zur Folge, dass man einfach mit niemanden mehr reden konnte. Statt dessen hatte nun eine Phase begonnen, in der ganz viele Leute anfingen, ohne Vorurteile miteinander zu kommunizieren.
Die Tute Bianche haben sich innerhalb dieses neuen Kontextes entwickelt. Bestimmte Erfahrungen, wie die von LBP, die anfangs noch avangardistisch waren, wurden von immer mehr Leuten geteilt. Und ich spreche hier vor allem vom Umgang mit den Medien. Es geht darum nicht mehr nur zu sagen »die Journalisten lügen«, sondern zu versuchen, diese Lügen durch ein Angebot von alternativen Mythen zu steuern, durch die Verwendung bestimmter Wörter Sinnenstellungen zu produzieren, die dann von der Presse übernommen werden. Wie das geht, wurde z.B. vor Genua offensichtlich, als alle Kommentatoren auf einmal von der »Vielfalt« (moltitudine) sprachen, die als Begriff von Toni Negri aus der »Ethica« von Spinoza aufgegriffen wurde. Plötzlich konnten alle auf wunderbare Weise verstehen, was Vielfalt bedeutete, ohne jemals Negri oder Spinoza gelesen zu haben: Dass es den Block, die Masse nicht mehr gibt, sondern nur mehr eine Vielfalt, in der die existierenden Unterschiede wahrgenommen und nicht in der Masse annulliert werden, das wurde selbst von den rückständigsten Journalisten verstanden. Unsere Medienarbeit wurde von einer originellen Demo-Praxis begleitet, die den Unterschied zwischen Gewalt und Nicht-Gewalt aufhob und deren Techniken heute jeder kennt: Der Körperschutz, die Schutzschilder, die Schildkrötenformation usw... das alles war auch eine Art Spott oder umwertende Praxis, wie sie uns vom Luther Blisset Project vorgemacht worden war.
Obwohl die beiden ersten Entwicklungslinien der Autonomia entstammen, hätten sie ohne den Einfluss des Zapatismus nicht miteinander kommunizieren können. Der Zapatismus hat gezeigt, dass man konkret agieren kann und sich nicht nur damit beschäftigen sollte, seine Radikalität nach außen zu kehren, sondern dass es wichtig ist, kommunikativ wirksam zu werden.
Die Besetzung von San Christobal in der Nacht zum 1. Januar 1994 war ein unglaublicher Coup de Théatre. Die Zapatisten erklärten ihr Vorgehen als Reaktion auf den finsteren Freihandelsvertrag NAFTA von dem bis zu diesem Punkt noch niemand etwas gehört hatte, bevor diese indigenen Semi-Analphabeten das zur Sprache brachten. Das hat viele Kräfte mobilisiert, weil sofort klar wurde, dass es sich bei der EZLN nicht um eine klassische Dritte-Welt-Guerilla handelte. Die Eroberung des Regierungspalastes war ihnen scheißegal, vielmehr wurde eine Verbindung zum Rest der Welt hergestellt. Jeder sollte auf seine Art und in seinem Teil der Welt agieren, von den gleichen Parolen ausgehend: »Für Würde«, »Gegen Neoliberalismus«, »Für Autonomie« usw. Mitte der Neunziger gab es in Mexiko und Spanien dann zwei interkontinentale Treffen, bei denen sehr unterschiedliche Subjekte zusammenkamen. Darunter befanden sich auch Leute, die dann die Carta di Milano schrieben und Teil des Luther Blissett Projects waren.
Die zapatistische Nutzung der Mythen war dem sehr ähnlich, was Luther Blissett sich vorstellte. Man wollte Mythen produzieren, die sich nicht als Kristalline verfestigen, verselbständigen und entfremdet werden, sondern von den Gemeinschaften, die sie verwenden, ständig manipulierbar bleiben: Sich zur Maya-Gemeinschaft bekennen, ohne sich auf eine identitätspolitische »Erbschaft« zu beziehen, was keinen Sinn machen würde. Die vielfältige und ironische Verwendung der Maya-Mythen, wie es Marcos z.B. in seinen Fabeln macht, ist sehr kommunikativ und wirksam, und vielleicht die beste Gegeninformation für diesen Teil der Welt. Und dann die Person Marcos selbst: Er ist kein Leader, sondern der Subcomandante, weil alle Comandantes Indios sind, und er selbst ist nun einmal weiß. Außerdem ist er der Subcomandante, weil Zapata der einzige Leader ist.
Was auch hier wieder auf Blissett verweist: In der Imagination der untergeordneten Klassen in Mexiko lebt Zapata noch immer. Auch wenn er mittlerweile 110 Jahre alt wäre, er reitet noch immer! Es gibt viele sprachliche Ausdrücke, die vermitteln, dass er nicht tot ist und dass er eines Tages zurückkehren wird, auch wenn rein rational jeder weiß, dass er nicht mehr am Leben ist. Als der Aufstand mit der Besetzung in San Christobals begann, konnten die Indigenas mit diesem Mythos in der Öffentlichkeit einen Durchbruch erzielen. Sie haben gesagt: Alles ist möglich, mit den Mitteln, über die du verfügst. Das war die dritte Entwicklungslinie. In den Tute Bianche laufen diese drei Prozesse zusammen. Wenn man über die Centri Sociali im Nordosten Italiens sprach, wurden sie tatsächlich als »metropolitane zapatistische Gemeinschaften« bezeichnet.


Kann man sagen, dass Genua einen Höhepunkt in dieser Entwicklung markiert?

Genua markiert einen Höhe- und Wendepunkt, vielleicht aber auch einen Stillstand. Es handelte sich um eine Katastrophe im physischen Sinn. Der Physiker René Thom, der die Theorie der Katastrophen begründet hat, benutzt den Begriff »Katastrophe«, um eine Topologie zu beschreiben, die von einer plötzlichen Unterbrechung geprägt wird. Genua war in diesem Sinn eine Katastrophe und der 11. September war eine andere. Wir befinden uns heute in einem solchen, gänzlich veränderten Raum, den wir erst noch durchmessen müssen.


Wie hat Wu Ming auf diese beiden Katastrophen reagiert?

Sofort nach Genua haben wir etwas geschrieben, um verständlich zu machen, dass das eine Katastrophe in diesem und nicht im klassischen Sinne gewesen ist, denn in Genua gab es auch sehr positive Signale: Dass 300.000 Leute am Samstag den 21. Juli unseren Arsch gerettet haben, war unvorstellbar. Wir hatten die Moltitudine gerufen. So als ob wir eine Wünschelrute benutzt hätten, um die Vielfalt mit einem vibrierenden Stab zu suchen. Plötzlich schlug der Stab derart heftig aus, dass wir uns den Arm dabei brachen. Die Vielfalt stellte sich so schnell her, dass sie die Gleichgewichte durcheinander brachte und eine Krise auslöste, mit hysterischen Reaktionen seitens des Staates und massiven Erschütterungen. Trotzdem ist es positiv, dass die Vielfalt gekommen ist.


In welchem Sinn ist die Vielfalt plötzlich gekommen?

In den vorausgegangenen Wochen hatten wir immer gedacht, es würden vielleicht 100.000 Leute kommen und das war die höchste Zahl, die wir uns vorstellen konnten. Noch am Freitagabend (20.7.2001) hatten der Präsident der italienischen Republik, Ciampi und Regierungschef Berlusconi in Fernsehansprachen dazu aufgerufen, nicht nach Genua zu kommen, um die Arbeit der Sicherheitskräfte nicht zu behindern. Die Arbeit der Sicherheitskräfte bestand darin, Leute umzubringen: und sie haben Carlo Guiliani ermordet. Die DS (Demokratische Linke), die nach tausend Diskussionen und Polemiken anreisen wollte und die Busse für Genua schon angemietet hatte, sagte nach dem Tod Carlo Guilianis am Freitag ihre Teilnahme ab. Die Leute reagierten auf zweifache Weise: Einerseits waren sie äußerst zornig, angesichts der Infragestellung des Demonstrationsrechts. Gerade jetzt, nachdem eine Person zu Tode gekommen war, sollten sie nicht gegen diesen Staatsmord demonstrieren dürfen? Andererseits fühlten sich zahlreiche Mitglieder der DS-Basis von ihren Parteidirigenten beschissen. Sie kamen als Einzelpersonen.
Diese doppelte Reaktion hat zur unermesslichen Vielfalt beigetragen. Es gab wirklich alles: Katholiken und Satanisten, Laienschwestern und die Leute aus den Centri sociali, Anarchos und Arbeiter aus den Gewerkschaften, die DS-Basis und japanische Zen-Mönche.
Das war die Verwirklichung eines kollektiven Intellekts! Alle diese Leute wussten, dass, wenn sie nicht nach Genua gekommen wären, ein Massaker stattgefunden hätte. Die Stadt wäre zu einem gigantischen Labyrinth aus stählernen Fangnetzen geworden und dann hätte die Jagd auf jeden Einzelnen begonnen. Schon am Freitag waren sehr viele Leute da: 40.000. Aber 40.000 sind nicht 300.000! Ich glaube, das war das positivste Signal von Genua: die Nacht von Freitag auf Samstag, als Sonderzüge und Autos und alle möglichen Verkehrsmittel nach Genua kamen.


Welche Auswirkungen hatte die Genua-Katastrophe auf die Strategie der Tute Bianche?

In diesem neuen Raum, der in Genua als Diskontinuität geschaffen wurde, müssen wir erst noch lernen, uns zu bewegen. Wir wissen aber, dass wir nicht vom Nullpunkt anfangen, sondern von diesen 300.000 Leuten. Wir verstehen Genua auch als »Diskontinuität« und »Katastrophe«, weil die Tute Bianche erfahren mussten, dass ihre sehr effektive Strategie der Jahre 1998 bis hin zu Genua in diesem neuen Szenario nicht mehr ausreichte, um die Leute wirksam zu schützen.
Sie mussten sich mit jeder möglichen Praxis verteidigen: Von der Barrikade bis zum Steinewerfen oder der Aufteilung in kleine Gruppen. In der Via Tolemaide ist wirklich alles Mögliche geschehen, so als ob 20 Demonstrationszüge aufeinander getroffen wären, in der jede Gruppe komplett verschiedene Verteidigungsmaßnahmen ausübte. Man hatte eine gemeinsame Praxis gefunden, aber wenn diese in die Krise gerät, wendet sich plötzlich jeder an sein persönliches Vermögen und an seine Art, auf der Straße zu demonstrieren. Womit wirklich niemand gerechnet hatte, war ein Angriff der Carabinieri noch während des autorisierten Teiles der Demo, der die Pläne der Tute Bianche komplett erschütterte.


Wie interpretiert Wu Ming den Wandel der Tute Bianche, die sich nach der Erfahrung von Genua gemeinsam mit anderen Strömungen in Disobbidienti (Die Ungehorsamen) umbenannt haben?

Als das Wort Ungehorsam noch mit zivil assoziiert war, drückte es die Idee der cittadinanza (Bürgerschaft) aus, und zwar genau im  Moment, in dem man entscheidet, die Grenze der Legalität zu überschreiten. Das Ganze hatte durchaus eine biopolitische Bedeutung, die sich mit dem Ausdruck Empire gut verbinden ließ. Der Soziale Ungehorsam ist als eine Art Taschenspielertrick entstanden, um sich in der Nach-Genua Zeit zurecht zu finden. Es war als ob man eine Diskontinuität markierte, ohne dabei zu wissen, was danach passieren würde. Ich selbst finde es fragwürdig, dass diese Definition nach wie vor aufrechterhalten wird, und dass sie als Name eines noch virtuellen politischen Subjektes - im Areal des Ungehorsamen - fixiert wird. Dieser Prozess hat parallel zur Zersetzung des Ausdrucks Empire stattgefunden. Jener wird von den Kommentatoren immer nur falsch als Synonym für Imperialismus, als Metapher für den Nationalstaat der USA, als Metonymie für den Westen usw. benutzt.
Und außerdem, wer soll eigentlich ungehorsam sein? Antwort: die Multitude. Auch dieses Wort ist mittlerweile verbraucht. Es wurde von vielen Seiten herangezogen, um jede erdenkliche Art von Versammlung, Gemeinschaft und leider auch Masse zu unterstützen, obwohl die Multitude doch theoretisch eher das Gegenteil der Masse ist. Persönlich kann ich das Wort nicht mehr aussprechen, ohne dabei lachen zu müssen. Niemand hat bis jetzt die Multitude erklären können, maximal hat man es geschafft, sie noch halb-bewusst anzurufen, wie in Genua. Die Multitude ist ganz sicher nicht die des »Laboratoriums Carlini«, wo zwischen Notmaßnahmen, Platzregen, Überfüllung und letztlich der Lust, einfach abzuhauen, nichts wirklich erarbeitet worden ist.
Im Französischen gibt es den Ausdruck Langue du bois, Holzsprache. Diese bezeichnet die offizielle stalinistische Sprache der PCF (aber auch der PCI) mit ihren immer inhaltsloseren Begriffen. Sie deutete nur noch rituell einen unscharfen Sozialismus und eine Arbeiterklasse an, deren Physiognomie nicht mehr vorstellbar war. Auch die Autonomia hatte ihre Langue du bois, mit ihren antagonistischen Subjektivitäten, mit der Wiederzusammenfügung des metropolitanischen Proletariats, mit der reellen Subsumption und der geradezu obsessiven Wiederholung bestimmter Slogans und Bilder. In den letzten zehn Jahren haben wir diese Sprache verbrannt, weil sie von der Erfahrung entfernte. Es wäre absurd sie mit einer nicht weniger entfremdenden Sprache zu ersetzen. Aber genau das ist passiert.


In welchem Sinne wurden hier von der aktuellen Bewegung in Italien ähnliche Fehler begangen ?

Die organisiertesten Teile der Bewegung haben sich in zwei entscheidenden Fehlern verfangen. Zunächst in einem partiellen Triumphalismus, einer tragischen, siegessicheren Kurzsichtigkeit, die dazu führte, in der Verstärkung und der Reproduktion der eigenen Rolle und der eigenen Bewegung innerhalb der größeren Bewegung einen konsequenten Erfolg zu sehen.
Das birgt die Gefahr, eine avantgardistische Logik des 20. Jahrhunderts zu wiederholen, die längst obsolet ist. Wie Subcomandante Marcos sagte: »Mit so einer fortgeschrittenen Avantgarde, die niemand mehr erreichen kann, wüssten wir nichts anzufangen«.
Um den symbolischen Kampf gewinnen zu können, ist es aber auch notwendig, sich vom zweiten Fehler zu befreien, nämlich vom Gefühl der Niederlage, einer uralten Krankheit der Linken. In den besten Fällen entwickelte diese einen - im übrigen sehr christlichen - Geist des mündlichen Zeugnisses, ein ›Dabei sein ist alles‹, ein Prinzip, wonach die Teilnahme wichtiger ist als der Sieg. Im schlimmsten, zum Glück aber seltenen Fall führt dieses Gefühl zu einem dogmatischen und geschwätzigen Hyper-Radikalismus. Auf der strategischen Ebene fördert dies eine missgünstige Inaktivität, auf der taktischen Ebene Beschimpfungen jeglicher Art. Der einzige Inhalt dieser Leute ist die Verdammung jeder politischen Kampagne oder Aktion als »inadäquat« oder »reformistisch«, vor allem jeder sprachlichen und kommunikativen Innovation.


Mit welchen Themen sollte sich die italienische Bewegung stärker auseinandersetzen?

Obwohl sie hart geprüft wurde hat die »Bewegung der Bewegungen« in Italien und anderen Teilen der Welt die Tollheiten von 2001 in Göteborg und Genua überlebt. Sie konnte neu starten, trotz des Versuchs, sie militärisch wegzufegen. Auch nach dem 11. September, dem ideologischen Truppenanschluss des fünften Reichs, ist es nicht gelungen, die Partizipation Hunderttausender Menschen aufzuhalten. Ganz im Gegenteil haben diese im »enduring war« einen weiteren Grund gefunden, Widerstand zu leisten, auf die Strassen zu gehen und sich zu organisieren. Tausende Flüchtlinge der »ex-historischen« Linken bilden die Grenzen dieser neuen Bewegung und verlangen nach Teilnahme und Diskussionen, nach Ideen, Gesten und Wörtern, die ihnen die Würde der Opposition wiedergeben könnte: das Prinzip Hoffnung, um sich die Aufhebung des gegenwärtigen Standes der Dinge vorstellen zu können.
Ein erstes Problem ist damit sichtbar geworden, das Problem des Imaginären. Besser gesagt: Das Problem der Beziehung zwischen dem Imaginären und dem Imaginierbaren, dieser Bewegung, zwischen der Vorstellung von sich selbst und der anderen, möglichen Welt, die man andeuten will. Damit eine andere Welt möglich ist, muss es auch möglich sein, sich diese vorzustellen und den vielen anderen vorstellbar zu machen. Man sollte darüber nachdenken, welche die soziale, technische und politische Zusammensetzung der Multitude ist, die wir immer nur benennen, und welche Mythen der Kämpfe sie mit sich bringt und reproduziert.
Wir glauben, dass die Multitude eine Suche nach neuen, begründenden Mythen ausdrückt. Radikal neu! Mit der Betonung beider Termini: eine notwendige Radikalität und die Neuerung als solche.
Ohne eine Vorstellung, auf die man sich beziehen kann, eine offene und unendlich redefinierbare Erzählung, an der man frei teilnehmen und die man frei benutzen kann, wird die Bewegung sich nur damit abmühen , ihre neue, experimentelle und noch unbekannte Erfahrung zu fixieren.
Dabei bietet Italien zahlreiche mythische Stoffe an, z.B. die »italienischen Anomalie«. Man hat viel über die Unregierbarkeit Italiens geredet. Was bedeutet es aber unregierbar zu sein? Unserer Meinung nach bedeutet es, dass wir nie so tief sinken werden wie die Vereinigten Staaten. Das ist wirklich eine regierbare Gesellschaft. In Italien beten viele Leute, dass der Wind noch stärker blasen möge. Es gibt ein permanentes Ungleichgewicht zwischen repräsentiertem und reellem Staat, jetzt noch mehr als jemals zuvor.
Dann definiert man Italien seit langem als »europäisches Südamerika«. Man vergisst dabei, dass Südamerika nicht nur ein Kontinent mit gewalttätigen Widersprüchen, sondern auch der unendlichen Mythopoiesis der Linken ist. Dort arbeitet der Widerstand im Untergrund weiter und tritt immer wieder mit neuen Formen an die Oberfläche, vom Zapatismus, zur Mobilisierung für den kleinen Elias, bis hin zum argentinischen »Cacerolazo«. So ist es auch in Italien. Hier finden wir ein Sediment des Mythos wieder, der ein Hebel sein wird, um die heutige Blockade auszuhebeln.
Wenn man unterwegs ist, merkt man, wie die GenossInnen anderer Länder beeindruckt nach Italien blicken. Das neu entstandene New-York-Social-Forum ist sprachlos, wenn man von den italienischen Sozial-Foren erzählt, die uns hingegen als unglaublich langweilig erscheinen. Die Mobilisierung gegen die Abschiebelager für illegalisierte MigrantInnen läuft in ganz Europa, aber niemand hat es bisher geschafft, ein Lager komplett zu demontieren, wie es in Bologna geschehen ist. In keinem anderen Land gibt es die selbstverwalteten Centri Sociali in einer Form, wie wir sie kennen, und mit einer solchen Resonanz, die wir als selbstverständlich annehmen.
Ich könnte, mehr oder weniger zufällig, viele weitere Beispiele aus der Geschichte der letzten fünfzig Jahre zitieren: In Italien hat ´68 fast zehn Jahre gedauert. Hier gab es die größte Kommunistische Partei des Westens, und das hatte - positiv wie negativ - eine große Bedeutung. Hier haben sich die innovativsten Richtungen des »häretischen« Marxismus entwickelt, die mit dem Fall-out des Hegemonie-Begriffs Gramscis den Wortschatz der Politik teilweise reformulieren konnten. Um diese ruhelosen Strömungen aufzuhalten, ist Italien zum »Laboratorium der Repression« und der »Prävention« geworden. Es muss noch hingefügt werden, dass Italien tatsächlich das Argentinien Europas ist: Ein Staat, wo das extra-legale Kapital die politische Macht erobert hat, wo die Institutionen einen Kampf auf Gegenseitigkeit betreiben (Exekutive gegen Gerichtswesen), wo die Legitimitätskrise auf internationaler Ebene mit der irreversiblen Krise der politischen Repräsentation der Opposition auf interner Ebene korrespondiert. Ein Land, wo eine Massenbewegung auf den Strassen stark engagiert und zumindest symbolisch eine neue konstitutive Macht darstellt. 


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