Wu Ming
Januar 2000

Our old "Declaration of intents". We wrote it in January 2000. It is outdated by now, especially as regards our self-description as "a company", "an enterprise" etc. After the "new economy" bubble burst, new readers would have missed the irony. We keep it on the site for the sake of archaeology. (Note written in April 2003)



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Wu Ming ist ein Labor für die Gestaltung von Literatur in verschiedenen Medien.
Die Marke Wu Ming wird von einem Kollektiv von Schriftstellern und Aktivisten verwaltet, das eine eigenständige Firma für "erzählerische Dienstleistungen" betreibt. Dies steht im weitesten Sinne für Aktivitäten, die Literatur mit den neuen Medien verbinden.
Wu Ming wurde gegründet von Roberto Bui, Giovanni Cattabriga, Luca Di Meo, Federico Guglielmi (die von 1994 bis 1999 Mitglieder des Luther Blissett-Projekts waren und Verfasser des Romans "Q" sind) und Riccardo Pedrini. Doch sind Namen hier wenig bedeutend. "wú-míng" ist Mandarin, heißt übersetzt "kein Name"
und steht als Autorensignatur oft unter Schriften chinesischer Dissidenten.
Dieser Name ist verläßlicher Beweis, daß wir keine Prominenten, ruhiggestellte Salonschriftsteller oder dressierte Literaturpreisaffen werden wollen. Im Gegenteil führt unser neues Projekt exakt fort, was schon das Luther Blissett-Projekt auszeichnete: radikale Formen und Inhalte, Heteronyme und gleitende Identitäten, Taktiken der Kommunikationsguerilla...
All das wird stärker auf narrative Gestaltung ausgerichtet oder, allgemeiner ausgedrückt, darauf, Geschichten zu erzählen (egal in welchem Medium: Romane, Drehbücher, Berichte, Konzeptentwürfe von Computer- oder Brettspielen, usw.) und/oder von anderen entworfene Geschichten zu bearbeiten (Redaktion, Talentsuche, Öffentlichkeitsarbeit, Übersetzungen in und aus verschiedenen Sprachen, usw.).
Wie in den Monaten nach der Veröffentlichung von "Q" wird unsere Devise lauten: "sich zeigen, ohne zu erscheinen; den Lesern zugänglich, den Medien aber undurchsichtig zu sein". Dies hat nichts mit pathologischer Öffentlichkeitsscheu à la Pynchon (oder Salinger) zu tun. Wu Ming wird sich an der Öffentlichkeitsarbeit für seine Produkte (Interviews, Lesungen, usw.) beteiligen, sofern sie nicht zu abgenutzten kameragesteuerten Prominenten-Suchspielen (Foto-Sessions, Fernsehauftritten, Verbreitung von Klatsch usw.) pervertiert. Allen solchen Begehren wird sich Wu Ming verweigern und verlangen, daß statt der Gesichter der Autoren sein offizielles Firmenlogo gedruckt oder gesendet wird. Das Logo besteht aus zwei chinesischen Ideogrammen, die den Namen "Wu Ming " ergeben.
Wir haben unsere Firma auch deshalb chinesisch benannt, weil wir glauben, daß die Zukunft menschlicher Gemeinschaften davon abhängt, was sich im fernen Osten ereignet. Keine soziale Ökologie, keine praktische Kritik der Ungleichheit von demographischem Wachstum und kapitalistischer Expansion kommt heute daran vorbei, kulturelle Brücken zum fernen Osten zu schlagen, und insbesondere zu China. Dort steht unsere Zukunft zur Debatte, wenn es um die globale Katastrophe und ihre Verhinderung geht. Und dorthin bewegt sich auch das Imaginäre der Menschheit.
Wu Ming s Modell kultureller Produktion richtet sich gegen idealistisch-romantische Vorurteile vom "Genie", individueller "Inspiration" und dergleichen Quatsch mehr. Wu Ming befördern die Krise des
Copyright-Prinzips. Wur glauben nicht an den Privatbesitz von Ideen. Wie beim Luther Blissett-Projekt wird jedes Produkt der Marke Wu Ming , egal in welchem Medium, Copyright-frei sein, mit jeweils solchen Spezifikationen und Einschränkungen, die Wu Ming für nötig hält.
Daß ein Unternehmen geistiger Arbeit, dem typischsten Gegenstand also des postfordistischen Kapitals, die Mythen, Rituale und Überbleibsel des geistigen Eigentums überwinden will, ist ein fruchtbarer Widerspruch, der den Konflikt in die tiefsten Tiefen des Markts trägt und über die Praxis
solch eines informellen Gegenstands wie des Luther Blissett-Projekts hinaus.
Wer weitere Parallelen ziehen möchte, wird Wu Ming auf demselben Schlachtfeld sehen wie die Programmierer und Unternehmen von "Open Source"- bzw. Freier Software.
 

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Wu Ming ist ein autonomes politisches Unternehmen.
"Unternehmen", weil die geistigen Arbeiter der Welt sich diese Form von unten her wieder aneignen müssen, um den "Olymp" der Ökonomie anzugreifen, gegen Firmen-Parasiten, staatliche Dinosaurier und über sie hinaus. Als Freelancer selbständig zu arbeiten, reicht nicht aus. Wir müssen stärker
werden und Kontrolle über den Produktionsprozeß und die Ergebisse unserer kreativen Arbeit gewinnen.
"Autonom", weil Wu Ming sich niemals um öffentliche Gelder bewerben wird: Wir setzen auf die Selbstwertschöpfung geistiger Arbeit, das heißt auf unsere eigenen unternehmerischen Fähigkeiten. Wu Ming s Ziel sind gleichberechtigte Geschäftsbeziehungen und keine untergeordneten Arbeiten
für irgendeine örtliche, regionale, staatliche oder kontinentale Bürokratie.
"Politisch", weil es in der Kultur seit langem nicht mehr "den Intellektuellen" gibt, der unabhängig von der Gesamtheit der Produktion (und der niemals autonom gewesenen Politik) wäre. Heute ist Information die wichtigste Produktivkraft. Jene Maschine, die wir früher "Kulturindustrie" nannten, ist mit einer ganzen Galaxie von Waren und Dienstleistungen symbiotisch verbunden. Alles ist Multimedia, die Unterscheidung von "humanistischem" und "technischem" Wissen hinfällig. Welchen privilegierten
Status kann ein "Schriftsteller" heute noch behaupten, wenn Geschichtenerzählen nur eine von vielen Spielarten geistiger Arbeit ist, jenes größeren sozialen Arbeitszusammenhangs also, der
Softwareprogrammierung, Industriedesign, Journalismus, Geheimdienstarbeit, Sozialdienste, Geschlechterpolitik usw. integriert?
Daraus folgt, daß es die alte Option, als "Künstler" und "Schriftsteller" politisch "engagiert" zu sein, nicht mehr gibt. Geistige Arbeit ist nicht nur Teil der Produktionsnetzwerke, sondern vielmehr deren
Hauptantriebskraft. "Kreativen Arbeitern" bleibt daher keine Wahl. Sie können sich nicht darum drücken einzugreifen. Schreiben ist Teil der Produktion, Erzählen ist Politik. Nun gilt es, sich zwischen denen zu
entscheiden, die dies begriffen haben und den Legionen der bewußten oder unbewußten Reaktionäre.
 

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Für welche Erzählungen und Geschichten interessieren sich Wu Ming ?
Zunächst einmal für Geschichten, die einen Anfang, ein Ende und einen Plot in der Mitte haben. Experimentieren ist nur dann erlaubt, wenn es die Erzählungen verbessert. Wenn Experimente nur eine Ausrede für mittelmäßige oder schlechte Erzähler sind, dann können sie sich - soweit es uns betrifft
- ihre Experimente in den Arsch schieben.
Wir mögen Geschichten von Konflikten, gewebt an den Nähtischen von Epos und Mythopoeisis, mit den Mechanismen und Stilen von Genreprosa, biographischen Spielfilmen, Partisanen-Berichten oder sogenannter Mikrohistorie. Romane, die rohe Materialien aus schimmernden Gebieten der Geschichte aufgreifen, wahre Begebenheiten, die wie Fiktion erzählt sind, und umgekehrt. Die Aneignung vergessener Ereignisse, an deren Mittelpunkten oder Rändern sich unsere Plots entfalten können: "Our continuing narrative line is blurred past truth and hindsight. Only a reckless verisimilitude can set that line straight" (James Ellroy im Vorwort zu "American Tabloid"). Wichtig ist es, Lichtjahre Entfernung zwischen uns und der bürgerlichen Literatur zu halten: Der echte Protagonist der Geschichte ist weder der große Mann, noch der nomadische einzelne, sondern - ganz im Gegenteil - die namenlose Menge in
den zweiten und dritten Reihen, hinter ihnen oder durch sie die namenlos schwärmende Vielheit von Ereignissen, Schicksalen, Bewegungen und Umkehrungen: "Das Fresko zeigt mich als eine der Figuren im Hintergrund. In der Mitte sind der Papst, der Kaiser, die Kardinäle und die Fürsten zahlreicher Länder zu sehen. An den Rändern die diskreten und beinahe unsichtbaren Kundschafter, die hinter den Tiaren und Kronen hervorlugen, doch in Wirklichkeit die gasmte Geometrie des Gemäldes tragen, es füllen und, ohne daß sie sich selbst in den Vordergrund schieben, jenen Köpfen eraluben, die Mitte zu besetzen" (Das Tagebuch des Q, erster Satz).
Wir möchten die Verfaßtheit, das Emporkommen und die Bewegung der Vielheit erzählen. Die Vielheit hat nichts zu tun mit den Massen, jenem homogenen Block, der mobilisiert wird oder als sonst "schwarzes Loch" aus Meinungsumfragen spricht. Die Vielheit ist "ein Horizont ausgestellter
Körperlichkeit und wilder Multiplizität. Eine Welt der Interferenzen und physikalischen Kombinationen, Assoziationen und Disassoziationen, Fluktuationen und Materialisierungen, die - in perfekt geradliniger Logik - paradoxische Kreuzungen von Kausalität und Zufall, Tendenz und Möglichkeit erzeugt. Das ist die ursprüngliche Dimension der Vielheit" (Antonio Negri, Spinoza sovversivo).
Wu Ming möchten, zusammengefaßt, die Zusammenarbeit sowohl in der Form, als auch in der Substanz der immateriellen Produktion hochleben lassen: Die Macht des Kollektiven ist zugleich Inhalt und Ausdruck unserer Erzählungen.


Erklärung der Rechte
(und Pflichten) von Erzählern