Die Welt 11.01.2003

Gesucht wird Das trojanische Pferd
Das Luther-Blissett-Projekt oder Wie
vier junge Leute Italien mit einem Roman narrten


VON STEFFEN RICHTER

Am 7. März 2000 berichtete "La Repubblica" auf ihrer ersten Seite vom Selbstmord des Luther Blissett. Im Feuilleton- Teil folgte ein opulenter Artikel über Leben und Werk des Dahingegangenen. Seit Mitte der neunziger Jahre war LB", der Dealer von Falschinformationen, durch die italienischen Medien gegeistert. Mal sollte ein Affenweibchen bei der Biennale in Venedig teilnehmen, dann benutzte eine HIV-infizierte Prostituierte angeblich löchrige Präservative, um sich an ihren Freiern zu rächen. Erst in letzter Minute konnte die Ausstrahlung der populären Fernsehsendung "Chi l'ha visto?" (eine Art "Bitte melde dich!") gestoppt werden, die nach dem vorgeblich verschwundenen englischen Künstler Harry Kipper suchen wollte. All die lancierten Falschmeldungen waren gezeichnet Luther Blissett. Schließlich erschien bei Mondadori ein Band mit Enthüllungen über den großen Unbekannten. Am gleichen Tag höhnte Luther Blissett, den Herausgeber mit von vorn bis hinten getürkten Informationen gefüttert zu haben. Den Höhepunkt dieses kurzen und turbulenten Lebens bildete 1999 die Publikation des Romans "Q". Luther Blissett stürmte die Bestsellerlisten und war im Handumdrehen für den wichtigsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega nominiert.

Mit diesem letzten Coup des Luther- Blissett-Projekts betraten vier junge Männer aus Bologna die Bühne. Die diebische Freude, fünf Jahre lang den Betrieb gründlich an der Nase herumgeführt zu haben, wollten sie gar nicht verhehlen. Jetzt bekam ein Gesicht, was zuvor nur in Form eines Fotos, der Synthese aus mehreren Passbildern von anonymen Italienern aus den dreißiger Jahren, zirkuliert war. Den Namen hatten sie von einem jamaikanischen Fußballspieler geborgt, der in der Saison 1983/84 - ziemlich erfolglos - für den AC Mailand stürmte. Zugleich erschien bei Einaudi mit "Toto, Peppino e la guerra psichica 2.0" eine Sammlung der wichtigsten theoretischen Texte der Blissettianer. Spätestens jetzt war jedem klar, dass keine Dummenjungenstreiche zur Debatte standen. Als "trojanisches Pferd", so die Programmatik, wollte Luther Blissett in den Mainstream eindringen und das "kulturelle Kapital auf seinem eigenen Terrain herausfordern".

Was sich hinter LB verbirgt, ist eine Mischung aus Dick Turpin, Robin Hood und Eulenspiegel. Gewitzt und immer bereit, überraschend aus dem Hinterhalt zuzuschlagen und unerkannt wieder zu entkommen. "Was keine feste Identität hat", so sprechen sie uns vor, "ist nicht greifbar." Demselben Prinzip folgt auch die Handlung des Romans "Q". Eigentlich war von den postmodernen Medienpiraten am ehesten eine Story über Computerfreaks und Hacker in den Machtzentren der westlichen Welt zu erwarten gewesen. Stattdessen jagen sie ihr Publikum ins 16. Jahrhundert, das mit Reformation, Kapitalmärkten und Buchdruck die Neuzeit einläutete. Es ist zugleich die Epoche, die Ernst Bloch als "Ekstase des aufrechten Ganges" beschrieben hat.

Der Protagonist zieht mit Thomas Müntzer in den Bauernkrieg, ist Wiedertäufer in der Republik von Münster, Freigeist unter den Schwärmern in Antwerpen. Er pfuscht dem Geldimperium der Fugger ins Handwerk und versucht, durch die Verbreitung eines Buches die Gegenreformation und Inquisition aufzuhalten. Er ist "der Besiegte jeder Zeit, jeder Schlacht", seine Geschichte ist die einer andauernden Niederlage. Den Namen und die Identität muss er beständig wechseln, um den Häschern zu entgehen. Sein Gegenspieler heißt Q, will meinen Qohelet oder Kohelet, der alttestamentarische Prophet der Vergeblichkeit. Als Spion der römischen Kurie schleicht er sich in die Gemeinde Müntzers ein und treibt den Bauernführer mit gezielten Desinformationen in die vernichtende Schlacht von Frankenhausen. Er forciert das Amalgam der religiös-sozialen Erlösungsfantasien der Münsteraner Wiedertäufer bis zum Wahnsinn und öffnet den Katholischen die Mauern der belagerten Stadt. Im Auftrag seines Dienstherren, des nachmaligen Papstes Paul IV., Gianpietro Carafa, initiiert er Inquisition und Judenverfolgung.

Die Geschichte ist geschickt arrangiert. Beide Erzählstränge verlaufen parallel, um sich nach einem dramatischen Crescendo von Schnitt und Gegenschnitt zum finalen Showdown zu kreuzen. Q rückt in seinen Briefen nach Rom die weltpolitischen Konstellationen mit deutschem Kaiser, französischem und englischem Königshaus sowie der päpstlichen Interessenlage samt allen politischen Ränken und Intrigenspielen in den Blick. Der gejagte Rebell hingegen verzeichnet in eine Art Tagebuch, wie er, den die Geschichtsbücher verschweigen werden, dem Rad der großen Historie im Verborgenen manch herzhaften Schwung verpasst. Hin und wieder wird das Geschehen mit kulturgeschichtlichen Apercus wie der Erfindung des Flugblatts, des Reiseführers oder der Einführung von Zigarren und Kaffee in Europa garniert. Das alles ist im Präsens erzählt, der Zeitform des Unabgeschlossenen, der sich vollziehenden Aktion.

Dass "Q" auch kommerziell äußerst erfolgreich war, ist nicht weiter verwunderlich. Denn trotz aller Revolutionsrhetorik, der einen oder anderen Marx- oder Bakunin-Paraphrase ist der Roman eine höchst spannende, historisch genau recherchierte, dabei sprachlich konventionelle und durchaus süffige Lektüre. Die Kürze der Kapitel kommt der Lesbarkeit zugute, so dass schließlich sogar das beachtliche Format von 800 Seiten recht verdaulich wird.

Zwar streiten sie es ab, doch sind die vier Autoren deutlich vom Bologneser Ambiente inspiriert, wo Umberto Eco und Carlo Ginzburg wertvolle "Vorarbeiten" zum Thema geleistet haben. Nie geht es in "Q" plakativ zu, auch die Ambivalenz der sozialen Befreiungsbewegungen, vornehmlich des "Irrsinns von Münster", werden klar herausgestellt. Zudem trifft das Buch auf eine italienische Stimmungslage. In deutschen Ohren mag die Rede von der Subversion recht antiquiert klingen. Italien hingegen buchstabiert seit dem Machtantritt von Berlusconis Forza Italia" die Worte "rechts" und "links" als politische Begriffe wieder neu.

Nun, Luther Blissett ist tot - aber doch nicht ganz. Mit Sinn für symbolische Akte hat sich das Kollektivpseudonym beim ersten Hahnenschrei des neuen Jahrtausends in Form des Seppuku, dem bevorzugten Suizid der Samurai, "entleibt". Es sei besser, so zitieren sie Cary Grant, eine Minute früher zu gehen und das Auditorium seinem Begehren zu überlassen, als es durch einen verspäteten Abgang zu langweilen.

Die Subversionsmaschine indes läuft weiter. Während viele Anhänger im Inund Ausland das Luther-Blissett-Projekt weitertreiben, ist der Kern der Truppe unter dem Namen Wu-ming ("ohne Namen") wieder auferstanden. Wie der ewige Revolutionär im Roman muss auch die Revolte in immer neue Verwandlungen hinein. Zum Totengräber des Kapitalismus wird Wu-ming, dessen neuer Roman "54" nur mäßigen Erfolg hatte, genauso wenig werden, wie es Luther Blissett gewesen ist. Aber um die Geschäftsordnung der verwalteten Welt etwas durcheinander zu wirbeln, dazu reicht es allemal. Denn "es genügt", wie es im Text heißt, "ein bisschen Feuer im Blut zu haben."

Luther Blissett
Q
A. d. Italien. v. Ulrich Hartmann. Piper, München. 799 S., 22,90 Euro.


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